Die Romanze zwischen mir und meinem Glucose-Sensor begann an einem sonnigen Tag an der portugiesischen Westalgarve. Sie kam für mich sehr unerwartet, denn mein Blutzucker hatte mich vorher herzlich wenig interessiert. Wozu auch, der ist doch nur bei Diabetes relevant - dachte ich zumindest.
Durch einen Podcast kam mir die Idee, einen kleinen Selbstversuch mit einem Blutzuckersensor zu starten. Und auch, wenn ich solche theatralischen Formulierungen eigentlich lieber vermeide: Diese Begegnung hat mein Leben verändert.
Was bitte ist ein Blutzucker-Sensor?
Beim Begriff Blutzucker dachte ich bis vor kurzem nur an Diabetes und Insulinspritzen. Solange Hausärzt:innen beim Vorsorge-Blutbild kein Warnschild schwenken, leben die meisten von uns in zufriedener Unwissenheit.
Das soll jetzt bestimmt nicht herablassend klingen – ich habe es ja genauso gemacht. Bevor ich das erste Mal von einem CGM (Continous Glucose Monitor) hörte, hatte mich mein Blutzuckerspiegel nicht die Bohne interessiert.
CGM-Systeme bestehen aus einer App und einem kleinen runden Blutzucker-Sensor, den du am hinteren Oberarm anbringst. Dort bleibt er zwei Wochen lang kleben und misst ununterbrochen deine Blut-Glucosewerte. Entwickelt wurden die Sensoren, damit Diabetiker:innen ihren Blutzuckerwert (den Glucosespiegel im Blut) besser im Blick behalten.
Anders als bei klassischen Blutzuckermessgeräten, mit denen man sich in den Finger piekst, zeigen dir Blutzucker-Sensoren nämlich nicht nur eine Momentaufnahme, sondern die gesamte Verlaufskurve. Dafür hat der CGM-Sensor eine kleine Nadel, die in deinem Unterhautfettgewebe steckt. Klingt erstmal unangenehm, aber ich schwöre: Ich habe wirklich NICHTS gespürt.
Was sollen Nicht-Diabetiker:innen mit einem Glucose-Sensor?
Vielleicht fragst du dich, was das Ganze soll: Ohne eine Diabetes-Diagnose sind die Blutzuckerwerte doch egal – oder?
2021 wurde ich zum ersten Mal auf das Thema aufmerksam. Ich höre viele Podcasts rund um Gesundheit und Ernährung: Irgendwann fiel mir auf, dass der Begriff "CGM" ziemlich oft wiederholt wurde. Blutzucker-Sensoren schienen bei Foodies, Athlet:innen, Biohackern und funktionellen Mediziner:innen irgendwie im Trend zu liegen.
Neugierig wie ich bin, fing ich an, zu recherchieren. Ich fand heraus, dass man sich die Sensoren in Deutschland einfach ohne Rezept bestellen kann. Ein paar Monate lang fragte ich mich, ob das jetzt wirklich nötig ist – und konnte irgendwann nicht mehr widerstehen. Ich kann nur sagen: Manche Entscheidungen, die eher nebensächlich scheinen, schlagen unerwartet große Wellen.
Das Blutzuckermessgerät und ich: Die erste Annäherung
Ich sitze also in meinem temporären portugiesischen Zuhause und betrachte das Zubehör vor mir auf dem Tisch – den kleinen Behälter mit dem Glucose-Sensor und den mitgelieferten Applikator. Mein Tipp: Wenn du den Applikator angebracht hast, schau dir den Sensor nicht von unten an.
Das Prozedere ist denkbar einfach. Haut am Oberarm desinfizieren, Applikator runterdrücken, Applikator entfernen – Sensor klebt. Um die Messergebnisse zu sehen, brauchst du außerdem die entsprechende App. Bei der neueren Generation ist der Blutzuckersensor noch kleiner als auf dem Bild oben, außerdem werden Sensor und Applikator in einem geliefert.
Die Kommunikation funktioniert per NFC (near field communication) bzw. per Bluetooth. Du startest das Experiment, indem du die Rückseite deines Smartphones auf den Sensor legst. Sobald ein lautes Pfeifen erklingt, dauert es eine Stunde, bis der Sensor anfängt, die Blut- bzw. Gewebezuckerwerte zu messen.
Die unmittelbare Reaktion meines Körpers auf einem Bildschirm
Bei meinem ersten Versuch bin ich natürlich gespannt wie ein Flitzebogen. Die Vorstellung, fast in Echtzeit zu sehen, wie mein Körper auf mein Essen reagiert, ist dann doch ziemlich aufregend. Während mein CGM-Sensor sich bereit macht, fange ich an zu kochen. Frisch gekeimte schwarze Kichererbsen und Gemüse in Curry-Kokosmilch. Eine ziemlich typische Mahlzeit für mich.
Pünktlich auf die Minute ist der Blutzucker-Sensor bereit für unseren ersten Austausch. Ich halte wieder die Smartphone-Rückseite auf den Sensor, es vibriert zweimal – und da steht auch schon der erste Wert: 95 mg/dL. Ungefähr eine Stunde nach dem Essen ist der Blutzucker bei 152. So weit, so gut, denke ich mir, und bin erstmal zufrieden.
Am nächsten Morgen nach dem Aufwachen sehe ich die Zahl 107. Die Verlaufskurve der ersten Nacht zeigt, dass der Wert nachts niedriger war und gegen Morgen zu steigen beginnt. Ich bin verwirrt: Was genau ist denn jetzt der Nüchtern-Blutzuckerwert? Und wieso steigt mein Blutzucker, obwohl ich noch gar nichts gegessen oder getrunken habe?
Was sind normale (und ideale) Blutzuckerwerte?
Weil ich keine Ahnung von Blutzuckerwerten habe, verbringe ich viel Zeit damit, Norm- und Idealwerte zu recherchieren. Nach und nach erkenne ich bestimmte Muster – und mir wird klar, dass einiges schiefläuft.
Mein Nüchternblutzucker liegt irgendwo zwischen 97 und 105. Manchmal steigt der Wert kurz nach dem Aufstehen (ohne Essen) an, manchmal nicht. Eine Stunde nach dem Essen liegt mein Blutzucker meistens bei ungefähr 150, nach zwei Stunden bei etwa 115 bis 120. Das klingt auf den ersten Blick nicht dramatisch. Allerdings muss ich ehrlich sagen, dass der Sensor am Arm mein Verhalten beeinflusst: Ich esse viel weniger Kohlenhydrate als sonst.
Die ersten größeren Schockmomente sind ein Abendessen in einem indischen Restaurant (182 mg/dL – zugegeben, keine allzu große Überraschung, obwohl ich das Garlic Naan extra weglasse) und einige Tage danach eine Portion selbst gekochter Kitchari. Letzteres ist eine Art Eintopf aus Reis und Mungbohnen, der im Ayurveda als besonders gesund und verträglich gilt.
Trotz reichlich Gemüseeinlage und weniger Reis steigt mein Blutzucker eine Stunde nach dem Essen auf sage und schreibe 196. Als Anhaltspunkt: Ein Blutzucker von mehr als 200 mg/dL (zu einem beliebigen Zeitpunkt) gilt als Hinweis auf einen möglichen Diabetes melllitus Typ 2. Als mein Verstand diese Zahl verdaut hat, ist mein Blutzucker längst wieder auf Normalwert.
Gesund ist nur, was für deinen Körper funktioniert
Während meinem Experiment mit dem CGM merkte ich vor allem eins: Ich hatte es meinem Körper in der Vergangenheit oft ganz schön schwer gemacht. Dabei war ich felsenfest davon überzeugt, mich sehr gesund zu ernähren. Wie stark mein Blutzucker nach bestimmten Mahlzeiten anstieg, zeigte mir aber, dass die gesunde Reaktion meiner Zellen auf Glucose (bzw. Insulin) beeinträchtigt war.
Eine meiner größten Herausforderungen war es anfangs, die Werte zu interpretieren. Wer „normale Blutzuckerwerte“ googelt, findet zwar die Grenzwerte: Ein Nüchtern-Blutzucker zwischen 70 und 100 mg/dL gilt als normal, zwischen 100 und 125 spricht man von Prädiabetes – der Vorstufe von Diabetes Typ 2. Ein Nüchtern-Blutzuckerwert von über 126 oder ein Blutzucker-Anstieg auf 200 oder mehr nach dem Essen sind Hinweise für einen manifesten Diabetes.
Blutzucker-Sensoren, also kontinuierliche Glukosemessgeräte, gibt es aber erst seit ein paar Jahren – und dass sie auch von Nicht-Diabetikern verwendet werden, ist eine ziemlich neue Entwicklung. Was normale bzw. optimale Blutzuckerwerte bei „gesunden“ Menschen sind, darüber gibt es deshalb momentan eine Menge unterschiedlicher Informationen.
Nachdem ich meine Ernährung angepasst hatte, pendelte sich mein Nüchtern-Blutzucker nach einigen Monaten bei ungefähr 85 ein. Sobald ich aber kohlenhydratreiche Mahlzeiten aß (oder - Gott bewahre - Reis, den persönlichen Todfeind meines Blutzuckers), sprangen die Werte in wahnwitzige Höhen. Irgendwann knackte ich sogar mal die 200, aber das ist eine andere Geschichte.
Ich recherchierte weiter und sprach auch mit einigen Ärzt:innen und Heilpraktiker:innen. Was ich meistens hörte: Solange der Blutzucker innerhalb von zwei, drei Stunden wieder sinkt, sind hohe Blutzuckerspitzen kein Problem.
Was passiert, wenn der Blutzucker steigt?
Inzwischen sehe ich das anders. Hohe Blutzuckerwerte können problematisch sein – vor allem dann, wenn sie sich regelmäßig zeigen. Ich vertrete die Meinung, dass ein optimaler Nüchtern-Blutzucker zwischen 70 und 90 mg/dL liegen sollte. Nach dem Essen halte ich einen Anstieg von 30 bis 50 mg/dL für eine gesunde Reaktion.
Es ist völlig normal, dass der Blutzucker schwankt - das gehört zu unserer Physiologie. Der aktuelle Trend, die Kurve so flach wie möglich zu halten, ist schlicht und ergreifend Unsinn. Trotzdem möchte unser Körper insgesamt einen eher gleichmäßigen Blutzuckerspiegel haben. Statt einer wilden Berg- und Talfahrt stellst du dir als Ideal vielleicht eher sanftere Hügel vor, die sich innerhalb einer moderaten Spanne bewegen.
Aber auch, wenn deine Blutzuckerreaktion mal etwas höher ausfällt, muss das kein Problem sein: Wichtig ist dann vor allem, dass deine Werte sich innerhalb von zwei Stunden wieder auf das Ausgangslevel (mindestens unter 140 mg/dL) begeben. Wenn ständig Glucose im Blut ist – zum Beispiel, weil wir jede Stunde snacken, kann das auf Dauer zu gesundheitlichen Schäden und vorzeitiger Alterung führen.
Solange Glucose im Blut ist, schüttet die Bauchspeicheldrüse Insulin aus. Insulin ist das Hormon, das den Zellen signalisiert, die Glucose aufzunehmen. Reagieren deine Zellen nicht gut auf das Insulinsignal, spricht man von Insulinresistenz.(*siehe Hinweis unter dem Text) Statt in die Körperzellen aufgenommen zu werden, bleibt die Glucose dann im Blut.
Das führt wiederum dazu, dass die Bauchspeicheldrüse sich noch mehr anstrengt – wir haben also ständig viel zu viel Insulin im Körper. Irgendwann, oft erst nach vielen Jahren, ist die Drüse quasi ausgebrannt: Sie schafft es nicht mehr, genug Insulin zu produzieren. Der Blutzuckerspiegel bleibt dauerhaft zu hoch, die finale Konsequenz ist ein Diabetes Typ 2.
Die Dunkelziffer bei Prädiabetes ist hoch
Inzwischen weiß man aber, dass die Probleme lange vor der Diabetes-Diagnose anfangen. Menschen mit Blutzuckerwerten, die einem Prädiabetes entsprechen (oder nahekommen), haben bereits ein erhöhtes Risiko für bestimmte Erkrankungen – zum Beispiel für eine Polyneuropathie. Ein Prädiabetes ist in meinen Augen die letzte Warnung, das Ruder endlich herumzureißen, denn er lässt sich deutlich einfacher umkehren als eine manifeste Diabetes-Erkrankung.
Je mehr und je länger Glucose in deinem Blut bleibt, desto höher ist das Risiko, dass sogenannte AGEs entstehen. Die Abkürzung steht für Advanced Glycation End-Products: Das bedeutet, der Zucker hängt sich an andere Moleküle in deinem Blut. Diese „Verzuckerung“ kann zu einer Reihe an Problemen führen, darunter Gewebeschäden und Entzündungsreaktionen.
AGEs gelten als Mit-Auslöser von vorzeitigem Altern und verschiedenen degenerativen Erkrankungen. Wir nehmen sie entweder mit (hocherhitzter) Nahrung auf oder fördern ihre Bildung durch hohe Blutzuckerwerte.
Außerdem stehen starke Blutzuckerschwankungen im Zusammenhang mit Heißhungerattacken, Verlangen nach Süßem, Nachmittagstiefs, Stimmungsschwankungen, hormonellen Dysbalancen und Schwierigkeiten beim Abnehmen. Es lohnt sich also, seine Blutzuckerwerte im Auge zu behalten - und am einfachsten geht das mit einem Glucose-Sensor.
Warum der normale Blutzuckerwert nicht alles ist
Ich möchte betonen, dass ein Blutzucker-Sensor seine Grenzen hat. Stabile Blutzuckerwerte bedeuten nicht automatisch, dass du dich gesund ernährst. Es ist auf keinen Fall (!) sinnvoll, gesunde Lebensmittel wie Beeren oder stärkehaltiges Gemüse zu vermeiden, um deinen Blutzucker möglichst stabil zu halten. Worum es geht, ist eine bessere Balance - und ein Gefühl dafür, was dir guttut.
Außerdem kann es sein, dass deine Blutzuckerwerte normal sind, aber dein Insulinwert zu hoch. Um das herauszufinden, müsstest du in der Arztpraxis nach einem Nüchtern-Insulintest oder dem HOMA-Index fragen.
Sich ständig Gedanken um den Blutzucker zu machen, kann außerdem auch zur Obsession werden. Glukosewerte zu intellektualisieren, ist eher kontraproduktiv: Sie sind bei weitem nicht alles, was zählt. Falls du eine Essstörung hast oder hattest, rate ich dir grundsätzlich von einem Glucose-Sensor ab.
Blutzucker messen mit Glucose-Sensor: Es lohnt sich trotzdem
Trotzdem sind CGM-Systeme in meinen Augen eine unglaubliche Bereicherung für alle, die ihren Körper besser verstehen und ihre Ernährung personalisieren wollen. Ich war schon immer davon überzeugt, dass Ernährung Maßarbeit ist. Das ist auch einer der Gründe, warum ich den Ayurveda so mag: Was für einen Menschen gut funktioniert, kann jemand anderem unter Umständen sogar schaden.
Mein Experiment mit dem Blutzucker-Sensor hat mich darin noch mehr bestärkt. Innerhalb der ersten zwei Monate habe ich wahrscheinlich mehr über meinen Körper gelernt als in den Jahren vorher. Jetzt, wo ich die Blutzuckerkurven verschiedener Menschen gesehen habe, weiß ich erst recht, wie groß die individuellen Unterschiede sind.
Der eine verstoffwechselt Nudeln besser, die andere Kartoffeln. Manche Menschen puffern die Blutzuckerreaktion am besten mit Fett ab, bei anderen funktioniert Protein besser. Auch Kaffee, Alkohol, Stress, Sport und Schlafgewohnheiten haben einen Einfluss auf deine Blut-Glukosewerte.
Natürlich musst du nicht auf Dauer ein Blutzuckermessgerät tragen. Bei den meisten Menschen reichen schon vier bis sechs Wochen aus, um bestimmte Muster zu erkennen und die Lebensmittel zu entlarven, auf die dein Körper besonders sensibel reagiert. Das bedeutet dann übrigens nicht, dass du sie nie wieder essen darfst - aber du lernst vielleicht, sie besser zu kombinieren.
Genauso kann es sein, dass du bei deinem Versuch feststellst, dass du dir um deinen Blutzucker überhaupt keine Gedanken machen musst. Diesen Fall habe ich erst kürzlich erlebt: Eine sehr gesundheitsbewusste Dame stellte fest, dass ihre Glukoseregulation der Inbegriff von Perfektion war. Ihr war es daraufhin fast etwas peinlich, wie sehr sie sich von Social Media Trends hatte beeinflussen lassen.
Mein Glucose-Sensor und ich führen übrigens inzwischen eine Fernbeziehung: Wir sehen uns nur noch alle paar Monate.
Wichtig ist, dass du dein Experiment nicht allein durchführst: Ein CGM bringt dir nur dann wirklich etwas, wenn jemand dir hilft, deine Werte zu interpretieren. Falls du gerne einen Blutzucker-Sensor ausprobieren würdest, aber keine Ahnung hast, wie du das Thema angehen sollst, sprich mich gerne an!
*Die Ursachen und Zusammenhänge einer Insulinresistenz sind noch nicht vollständig geklärt. Viele Dinge können dazu beitragen, dass deine Zellen insulinresistenter werden - und Kohlenhydrate sind eher nicht das Problem.
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